Der erste Koalitionsvertrag einer deutschen Bundesregierung kam 1961 mit acht Seiten aus. Der 64 Jahre und 17 Legislaturperioden später im Mai 2025 von Friedrich Merz (CDU), Markus Söder (CSU) und Lars Klingbeil (SPD) unterzeichnete, mit „Verantwortung für Deutschland“ überschriebene Vertrag hat 144 Seiten. Notwendig, so der Grundton des Vertrags, sei eine grundsätzliche Überarbeitung von Planungs-, Bau-, Umwelt- und Verfahrensrecht. Die Ankündigung lässt für den Naturschutz nichts Gutes erwarten. Es droht die Fortsetzung der von der sozial-grün-liberalen Fortschrittskoalition begonnenen Schwächung des Naturschutzes. Eine Verankerung von Betreiberpflichten für die land- und forstwirtschaftliche Bodennutzung, um dem Biodiversitätsniedergang auf dem Land wenigstens aufzuhalten? Fehlanzeige! Stattdessen setzt die Regierung in Feld und Wald auf Freiwilligkeit der Unternehmen und ein bloßes „Weiter so“.
Die angekündigten gesetzgeberischen Ambitionen der Koalitionäre zielen auf den Abbau von Umweltprüfungen, Eingriffsfolgenbewältigung, Artenschutz sowie der Mitwirkungsrechte der Naturschutzvereinigungen. Das soll ganz schnell geschehen. 86 Mal ist, zumeist im Zusammenhang von Planungs- und Zulassungsverfahren, von beschleunigen, vereinfachen, flexibilisieren und reduzieren die Rede. Das Baugesetzbuch soll in zwei Schritten novelliert und in den ersten 100 Tagen ein Gesetzentwurf zur Einführung eines „Wohnungsbau-Turbos“ vorgelegt werden. Wo gemeinschaftsrechtliche Vorschriften der Regierung noch Einhalt gebieten, will sie eine europäische Beschleunigungsinitiative starten. Den von der Vorgängerregierung initiierten Pakt für Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung setzt die Regierung fort.
Ganze 29 von 4.588 Zeilen gelten dem Naturschutz. Das Artensterben bleibt unerwähnt. Das Wort Naturschutz findet zehnmal und damit so oft Erwähnung wie die Raumfahrt. Das geschieht zumeist in inhaltsschwachen unschädlichen Absichtsbekundungen wie „Wir unterstützen kooperative Modelle für Landwirtschaft, Kommunen und Naturschutz“ oder „Wir wollen das Grüne Band im Sinne des Naturschutzes und der spezifischen Erinnerungskultur erhalten“.
Eine andere Aussage hingegen zielt unverhohlen auf eine zentrale Errungenschaft des deutschen Naturschutzrechts, nämlich die Verpflichtung zur Reparatur der Folgen zwar nicht sämtlicher Eingriffe in Natur und Landschaft, aber solcher zum „Klima- und Umweltschutz sowie zur Klimaanpassung“. Für diese grünschillernden Vorhaben wollen die Koalitionäre „die Notwendigkeit des naturschutzrechtlichen Ausgleichs reduzieren“. Zu diesen Eingriffen darf man mindestens den Zu- und Ausbau von Wind- und Solarparks, Pumpspeicherbecken, Wasserkraftanlagen, Gaskraftwerken, Stromleitungen, Energiespeicheranlagen oder gar den „klimaresilienten“ Wohnungsbau rechnen. Ulrike Fokken kommentierte diese Ankündigung in der taz: „unter Klimaschutz und Anpassung wird in Deutschland in Zukunft alles fallen“ und prognostizierte einen heillosen und ausgleichsfreien Verbrauch an Natur und Landschaft im Namen des Klimaschutzes. Wer eine Fabrik aufs Feld setzt, muss vollumfänglich die Schäden kompensieren. Nicht so, wenn darin Fahrräder oder E-Autos produziert werden, weil letztere gut sind, so die schlichte Logik der Vertragspartner, als wäre die Zerstörung von Natur und Landschaft nicht dieselbe. Wie kopflos die Koalition im Naturschutz agieren will, zeigt nicht zuletzt ihre Bereitschaft, selbst kleine Fließgewässer für die Energiegewinnung in Anspruch nehmen zu lassen. Damit erweist sich die neue Regierung als noch naturschutzvergessener als ihr Vorgänger. Dem Zubau von Wind- und Solarparks setzt die Koalition keine Grenze; begrenzen will sie nur die Höhe der Pachten für die Grundeigentümer von Solar- und Windparks. Pachten in obszöner Höhe, welche zu der Kostensteigerung für die Energie aus Sonne und Wind beitragen, die angeblich keine Rechnung schicken.
Die Merz-Regierung hält zur Zufriedenheit von Bündnis90/DieGrünen, von deren Wohlwollen die kleine christlich-soziale Koalition abhängig ist, ungebremst an den Ausbauplänen der Wind- und Solarenergiewirtschaft fest. Mehr noch: Die Regierung plant die Übertragung der von der Ampelkoalition zugunsten der Windenergiewirtschaft durchgesetzten Absenkung des Artenschutzrechts auf weitere Industrie- und Infrastrukturvorhaben, wenn nicht insgesamt aufs Bauen. Denn das verbirgt sich hinter dem sperrigen Diktum eines „bundeseinheitlichen Populationsansatzes im Artenschutz“: die Abkehr vom Schutz des Individuums, wenn nur die nationale Population im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat, nicht schon zusammenbricht. Ein Kerngedanke grüner Politik, der nun zu einer Blaupause schwarz-roter Wirtschafts-, Industrie-, Verkehrs-, Energie- und Baupolitik werden soll. Unterm Strich ist die Naturschutzpolitik der neuen Regierung ähnlich schlecht wie die der alten. Mit einem entscheidenden Unterschied: Der neuen Regierung steht für die Durchsetzung ihrer Pläne ein Milliarden Euro schweres Sondervermögen an Schulden zur Verfügung für Dinge, die zuvor unbezahlbar waren.
Die großen Umweltverbände sind angesichts dieses Debakels weithin sprachlos – vielleicht deswegen, weil die neue Bundesregierung an der großzügigen finanziellen Förderung der Nichtregierungsorganisationen festhält, die deshalb, so die Kritiker, sich die Unabhängigkeit und den Schneid längst haben abkaufen lassen. Von einer Regierung, die ihnen die Klagerechte nehmen, aber zugleich für mehr Anerkennung gemeinnütziger Organisationen und des Ehrenamts sorgen will. Auch darauf haben sich die Koalitionäre verständigt und darauf verstehen sie sich. Worauf und als was sich die Umweltverbände verstehen? Man weiß es nicht. Als außerparlamentarische Opposition gewiss nicht.