Henriette –
ein kleiner Kauz wird groß

Eine wahre Geschichte von Peter Josef Müller

Ich bin Henriette, ein Steinkauzweibchen. Als mich die Menschen gefunden haben, ging es mir gar nicht gut. In unserer kleinen Baumhöhle war es sehr eng. Brachten meine Eltern etwas zum Fressen, haben meine Geschwister mir meinen Teil immer gleich weggenommen. Nur weil ich ein paar Tage später aus dem Ei schlüpfte und etwas kleiner war als sie, schubsten sie mich bei der Fütterung einfach zur Seite. Ich war immer nur hungrig und wurde und wurde nicht größer.

Dann guckte plötzlich ein Mensch in unsere Höhle. Wir alle waren sehr erschrocken. Dann hat uns der Mensch aus der Höhle geangelt und in einen Eimer gesetzt.

Mensch angelt an der Höhle © Peter Josef Müller

Der Mensch machte jedem meiner Geschwister einen Ring ans Bein und setzte sie wieder in die Baumhöhle. Mich hat er dann erst einmal ganz genau angeschaut und Augen und Schnabel vom Schmutz befreit, der mir Augen und Nasenöffnungen verklebt hatte.

Kurzerhand wurde ich im ungemütlichen Eimer ins Auto der Menschen verfrachtet. Und los ging die Fahrt zu ihrem großen Haus. Das Brummen des Motors ging mir schon gewaltig auf die Nerven. Ich war aber vom langen Hungern so schwach, dass ich einfach keine Kralle mehr gerührt habe.

Im Haus der Menschen wurde ich dann so richtig verwöhnt. Zunächst bekam ich Wasser in den Schnabel geträufelt. Und anschließend gab es fette Mehlwürmer. Ich hab keine Sekunde gezögert und mir ein kugelrundes Bäuchlein angefressen.

Als ich satt und müde war, setzte man mich in einen kleinen Karton mit Hobelspänen und verschloss ihn. Jetzt hatte ich eine gemütliche Höhle ganz für mich allein. Viele Male am Tag wurde ich zur Fütterung herausgenommen. Die Zeit zwischen den Mahlzeiten verschlief ich. So ging es viele Tage und Nächte. Meine Familie hatte ich schon fast vergessen.

Meine Angst vor den Menschen war verschwunden. Nach dem guten Fressen wurde ich immer kräftiger und selbstbewusster.

Dann hatten die Menschen neue Pläne für mich. Sie setzten mich in ein Gehege, in dem schon ein Steinkauzpaar mit seinen vier Kindern wohnte. Ich wurde einfach zu ihren Jungen in die Bruthöhle gesetzt. Im ersten Augenblick dachte ich, nun müsste ich wieder um jeden Bissen kämpfen. Aber meine neuen Eltern brachten immer genug zu fressen, so dass es überhaupt keinen Streit mit meinen neuen Geschwistern gab. Im Gegenteil, bei der Gefiederpflege haben wir uns immer geholfen.

Nach einigen Wochen bei meiner neuen Familie ist aus mir doch noch ein richtig großer Steinkauz geworden. Ich machte meine ersten Streifzüge durch das Gehege. Doch dann kam plötzlich ein herber Rückschlag für meine Gesundheit. Mein Atem wurde ganz schwer. Ich bekam kaum noch Luft.

Die Menschen haben das sofort gemerkt, setzten mich in einen kleinen Karton und brachten mich zum Tierarzt. Im Wartezimmer sah ich durch die Luftlöcher im Karton riesige Hunde und jede Menge Katzen. Ich bekam einen Mordsschrecken. Dann beruhigte ich mich, denn in meinem Karton konnten sie mich nicht sehen, aber ich konnte sehen wie sie aus Angst vor den Tierarzt bibberten.

Zum Schluss kam ich an die Reihe. Bei mir hat der Tierarzt Parasiten in der Lunge festgestellt. Dagegen musste ich die nächste Zeit Medikamente nehmen. Gott sei Dank haben sie gewirkt, so dass ich die blöden Parasiten bald los war.

Meine Stiefgeschwister und ich waren mittlerweile zu stattlichen Jungkäuzen herangewachsen. Nun mussten wir nur noch lernen, Mäuse zu fangen. Auch dabei haben die Menschen geholfen. Sie streuten Sonnenblumenkerne in das Gehege. Die Kerne lockten die Mäuse an. Wir lernten schnell, sie zu überrumpeln.

Als das Jahr zu Ende ging, meinten unsere Eltern, wir müssten nun selbst einen Platz im Leben finden. Die Menschen müssen das gespürt haben. Sie brachten uns in ein anderes Gehege, in dem wir bis zum nächsten Frühling bleiben durften. Und dann kam der große Augenblick:

An einem lauen Frühlingsabend setzten mich die Menschen wieder in einen Karton und ab ging es mit dem Auto. Wieder dieses unangenehme Motorgebrumme während der Fahrt. Aber dann, kurz nach dem sie angehalten hatten und der Motor aus war, es war schon fast dunkel, rief plötzlich ein Steinkauzmännchen aus der nahen Obstwiese. War es etwa ein trauriger Junggeselle auf der Suche nach einem Weibchen?

Die Menschen warteten eine Zeit lang, ob nicht doch noch ein Weibchen antworten würde. Dann holten sie mich aus dem Karton, verabschiedeten sich von mir, wünschten mir alles Gute und ließen mich frei.

Ohne zu zögern flog ich direkt zu dem einsamen Steinkauzmännchen hin. Auf ein so schönes Weibchen habe er lange gewartet, sagte er später. Wir haben uns auf Anhieb prächtig verstanden. Er zeigte mir auch bald eine schöne große Höhle in einem ganz alten Apfelbaum. Ein guter Mäusefänger ist er auch. Was soll ich noch sagen? Wir haben Hochzeit gefeiert und in unserer Baumhöhle wachsen unsere eigenen Steinkauzkinder heran.